Karfreitag ist für mich eine Herausforderung. Wie kann Gott aus Liebe zu uns seinen einzigen Sohn Jesus Christus opfern? Das ist ein Widerspruch! Gott hat uns seinen Sohn Jesus Christus zum Heil gesandt. Und dann lässt er ihn einen schrecklichen Verbrechertod am Kreuz sterben? Die Nachfolgerinnen und Nachfolger von Jesus haben lange gebraucht, um diesen Widerspruch zu verstehen oder wenigstens nachzuvollziehen, was Gott zu diesem dramatischen Ende bewegt hat.
Sie dachten an ihre eigene Unvollkommenheit. Immer wieder haben sie versagt, als sie mit Jesus unterwegs waren: in stürmischer See ihm nicht vertraut, gestritten um die besten Plätze an seiner Seite, ihn verleugnet, verraten … Deshalb vermuteten sie: Wegen unserer Schuld, die uns von Gott trennt, ist Jesus gestorben. Er hat unsere Schuld auf sich genommen und sich geopfert.
Das Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“ von Paul Gerhardt (EG 85) nimmt in der vierten Strophe diesen Gedanken auf:
Nun, was du, Herr, erduldet,
ist alles meine Last;
ich hab es selbst verschuldet,
was du getragen hast.
Schau her, hier steh ich Armer,
der Zorn verdienet hat.
Gib mir, o mein Erbarmer,
den Anblick deiner Gnad.
Ist Gott auf uns Menschen zornig? Jesus sagt im Wochenspruch: So sehr hat Gott die Welt geliebt! Andere Nachfolger Jesu ließen die Sache mit Gottes Zorn offen. Sie dachten darüber nach, was Liebe bedeutet. Echte Liebe kann ja so weit gehen, dass sie auch Schmerzen und Leiden in Kauf nimmt um eines anderen Menschen willen. So wie wir immer wieder durch Leiden und Tod gehen, so hat auch Jesus gelitten und den Tod auf sich genommen - in Liebe und Solidarität zu uns.
Paulus hat dazu an die Gemeinde in Philippi geschrieben:
7Er (Jesus) legte die göttliche Gestalt ab und nahm die eines Knechtes an.
Er wurde in allem den Menschen gleich. In jeder Hinsicht war er wie ein Mensch. 8Er erniedrigte sich selbst und war gehorsam bis in den Tod – ja, bis in den Tod am Kreuz. (Philipper 2,7-8)
Andere Nachfolger wagten sich noch ein Stück weiter. Johannes hat am Anfang seines Evangeliums über Jesus geschrieben:
18Kein Mensch hat Gott jemals gesehen. Nur der eine, der Mensch geworden ist, der selbst Gott ist und an der Seite des Vaters sitzt –der hat uns über ihn Auskunft gegeben. (Johannes 1,18)
Jesus und Gott sind also eins und ungetrennt. Dann hätte uns Jesus Christus mit seinem Tod am Kreuz gezeigt: Gott selbst gibt sich in Leiden und Tod hinein, aus Liebe zu uns.
Elie Wiesel war ein Überlebender des Holocaust. In seinem autobiographischen Buch „Die Nacht“ schildert er, wie im Konzentrationslager zwei Mithäftlinge und ein Kind öffentlich erhängt werden. Als das Kind am Galgen langsam stirbt, fragt ein Mithäftling hinter Wiesel: „Wo ist Gott, wo ist er?“ Wiesel hört eine innere Stimme, die ihm sagt: „Wo er ist? Dort hängt er, am Galgen …“
Weil Gott selbst unseren Tod stirbt, endet die Geschichte unseres Lebens nicht mit dem Tod. An Ostern, durch die Auferstehung von Jesus Christus, dürfen wir glauben, dass wir nicht verloren sind, sondern mit ihm einst ewig leben.
Einen gesegneten Karfreitag und ein frohes Osterfest wünscht Euch
Euer Reisepfarrer Wolfgang K. Leuschner
Bild: © Wolfgang K. Leuschner